BRANCHEN & PRAXIS EMOTIONAL EMPOWERMENT ANGST IST EINS DER BESTEN GEFÜHLE - WENN WIR RICHTIG MIT IHR UMGEHEN Wie viel Angst ist gut für uns? Diese Frage lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Denn wie sie wirkt, hängt von der Dosis ab. Angst kann lähmen oder befeuern. Richtig mit ihr umgegangen, ist sie eine riesige Ressource – viel- leicht sogar eine unserer größten. Angst wird in unserer Kultur als ne- gative Emotion klassifiziert. Sie gilt als irrational und unprofessionell. Menschen, die Angst haben, sind schwach und unfähig. Wir glauben, dass Angst lähmt und uns erstarren lässt. Daher ver- suchen wir die Angst zu vermeiden, so gut es geht. Was wir dabei übersehen: Angst ist eine unserer größten Ressourcen. Unsere negative Prägung in Bezug auf Angst, passiert schon in der frühen Kind- heit. Angst gilt als irrational und daher sollten Erwachsene auch keine Angst haben. „Angst ist ein schlechter Berater“ heißt ein deutsches Sprichwort. Wir empfinden das Gefühl Angst als unange - nehm. Daher meiden wir die Angst, wie der Teufel das Weihwasser und verdrän- gen sie ins Unbewusste. Wir schließen Versicherungen ab, geben uns der Illusion von Sicherheit und Kontrolle hin und blei- ben innerhalb der uns bekannten Grenzen unserer Komfortzone, nur um keine Angst fühlen zu müssen. Also haben wir früh gelernt, die Angst wegzupacken – sehr zur Freude all derjenigen Branchen, die uns Produkte verkaufen wollen, die uns das Leben angeblich sicherer machen. Angst als Ressource Aber ganz neutral gesehen, ist Angst neben Wut, Traurigkeit und Freude eines unserer vier primären Grundgefühle. Wenn wir davon ausgehen, dass Gefühle kein Designfehler der Schöpfung sind, sondern eine nützliche menschliche Fähigkeit, dann müsste auch die Angst einen Nutzen haben. Es ist schwer, sich das überhaupt vorzustellen. Ein Nutzen lässt sich relativ schnell identifizieren: Angst lässt uns in neuen Situationen vor- sichtig vorgehen. Die Information, die Ihre Angst Ihnen in dem Moment gibt, könnte lauten: »Achtung, hier kommt etwas Neues, sei vorsichtig!« Angst beinhaltet also eine Schutz-Funktion. Wenn Sie Neuland betreten, ist immer Angst im Spiel – jeder der etwas anderes behaup- tet, ist ein Lügner, gefühlstaub oder hat keinen Zugang zu seiner Angst. Angst führt dazu, dass Sie in solchen Fäl- len einen Plan machen und sich vorbe- reiten oder langsam und mit Bedacht vorgehen. Angst als Ressource geht aber noch weit darüber hinaus. Sie lässt uns wach und präsent sein – wir nehmen Dinge wahr, die wir sonst niemals wahrnehmen würden. Sie können dann sprichwörtlich zwischen den Zeilen lesen. Angst setzt ungeahnte Fähigkeiten frei. Es gibt immer wieder Berichte von Menschen, die sich in scheinbar ausweglosen Situationen be- funden und dann ungeahnte Kräfte frei- gesetzt haben. Not macht erfinderisch! Das heißt auch, dass Angst, wenn sie frei fließen kann, Kreativität und Innovation in Gang setzt. Viele Erfindungen sind da- durch entstanden, dass der Erfinder Angst hatte, dass die Situation, in der er sich befand, für immer so bleiben würde und er sich deshalb auf neues Terrain bege- ben hat. Kreativität, Innovation, Neuland betreten, etwas erfinden? Das kommt al- les aus der Kraft und Energie der Angst. Gefühls-Taubheit blockiert den Zugang zur Kraft Da wir die Angst aber negativ bewerten und nicht lernen, mit ihr umzugehen, sind die meisten Menschen nicht in der Lage, sie bewusst als Ressource zu nutzen. Stattdessen lernen wir bereits als Kinder, unsere Gefühle zu betäuben und zu igno - rieren, um zu überleben. Unsere Gefühle haben so nicht die Möglichkeit, mit uns zu reifen und erwachsen zu werden. Ge - füh le, wie Angst, verschwinden aber nicht einfach, nur weil wir uns taub machen. Sie sind unsere ständigen Begleiter und schwelen dann unerkannt im Unterbe- wusstsein und können sich in körper- lichen Symptomen Ausdruck verschaffen. Emotionale Angst und authentische Angst Ein weiterer Grund, der uns von der Kraft der Angst fernhält, liegt darin, dass wir keine Unterscheidung zwischen emo- tionaler Angst und authentischer Angst treffen – zwischen Emotion und Gefühl. Emotionen haben ihre Ursache in der Ver gangenheit und entstehen durch schmerzliche Situationen, die wir in der Kindheit durchlebt haben. Wenn sich bei- spielsweise die Eltern trennen, während wir noch klein sind, kann diese „trauma- tische“ Erfahrung im Erwachsenenalter zu einer emotionalen Angst vor Verlust des Partners führen. Die Verbindung zu der frühkindlichen Situation ist uns 44 TeleTalk 6 / 2022 www.teletalk.de